Wie Nachrichten die Meinung manipulieren, am Beispiel einer Tageszeitung.
Die Welt der Nachrichten ist bunt. Es gibt eine Vielfalt an Nachrichten, jeden Tag. Nachrichten, die die Menschen interessieren könnten und über die man berichten könnte. Nachrichten, die dazu beitragen, dass der Konsument dieser Nachrichten sich eine Meinung bildet. Wichtige und nicht so wichtige Nachrichten. Interessante und nicht so interessante Nachrichten. Positive Nachrichten, die geeignet sind, Freude, gute Laune, Optimismus oder positive Emotionen zu erzeugen. Nachrichten, die Hoffnung machen. Aber auch negative Nachrichten, die geeignet sind, Trauer, Verzweiflung, Pessimismus und negative Emotionen zu erzeugen. Nachrichten, die Angst machen. Neutrale Nachrichten, die zwar einen Informationswert haben, aber nicht emotional wahrgenommen werden. Und vielleicht auch belanglose Nachrichten, die Lücken füllen.
Die Welt ist bunt. Das sollte man meinen und das ist ja auch das erklärte Credo der Medien gewesen, bevor sie von heute auf morgen ein einziges Thema zum neuen, alles beherrschenden Thema erhoben haben, das seither so gut wie jeden Tag das wichtigste Thema des Tages ist. Alle Themen, die zuvor wichtig waren und die Medien beherrschten, schienen schlagartig nicht mehr wichtig oder weniger wichtig zu sein, seit bald 2 Jahren. Ist das so oder ist das nur gefühlt so? Ich wollte es genau wissen.
Ich lese eine Tageszeitung. Ich hole sie jeden Morgen aus dem Briefkasten. Dann ist sie noch zusammengefaltet. Der erste Blick fällt auf die Titelseite (Seite 1). Genauer gesagt auf die Schlagzeile des Aufmachers. Die ist immer besonders groß und fett gedruckt. Sie ist die wichtigste Nachricht des Tages. Neben dem Aufmacher enthält die Seite 1 meist noch einen weiteren großen Artikel und oft auch noch einen kleineren, dritten Artikel. Meine Zeitung hat auch ein historisches Archiv, in dem man sich jede Ausgabe seit Januar 1870 online anschauen kann, wenn man auch das E-Paper abonniert hat. Das ist wirklich interessant. Meine Zeitung ist die Schaumburger Zeitung. Sie ist heute eine Tochter des Verlags C.W. Niemeyer (Deister- und Weserzeitung, Dewezet) und der Madsack Mediengruppe. Wie die Dewezet, bezieht sie ihre überregionalen Politik-, Wirtschafts- und Sportseiten seit 2004 von der Hannoverschen Allgemeinen (HAZ). Dazu gehört auch der Aufmacher. Der Aufbau der Seite 1 und des Aufmachers ist nicht identisch mit der HAZ. Er unterscheidet sich zuweilen in der Schlagzeile, manchmal nur um wenige Worte, entspricht jedoch inhaltlich meist dem Aufmacher der HAZ und ist dann auch von den gleichen Autoren geschrieben. Selten finden sich lokale Themen im Aufmacher.
Ich habe die Schlagzeilen des Aufmachers aller Ausgaben der Schaumburger Zeitung seit dem 2. März 2020 bis zum 5.12.2021 in eine Excel-Tabelle geschrieben und verschiedenen Themen zugeordnet. Ferner habe ich für jede Ausgabe festgehalten, ob das Thema „Corona“ ein Thema auf Seite 1 war oder nicht. Die Ergebnisse veröffentliche ich jetzt hier und es steht jedem frei, sie für sich zu interpretieren. Ich persönlich finde sie erschütternd.
Die erste Aufmacher-Schlagzeile zum Thema Corona erschien am 2. März 2020. Sie lautete „Erster Coronafall in Niedersachsen“. Von diesem Tag an drehten sich 204 (81%) aller Aufmacher-Schlagzeilen bis zum 31. Dezember 2020 um Corona. Nur 6 Schlagzeilen (2%) befassten sich noch mit dem zuvor sehr wichtigen Themenkreis Klima, Energie, Umwelt und Natur. Nur 5 Schlagzeilen bezogen sich auf das Thema Flüchtlinge. Ebenfalls nur 5 Schlagzeilen bezogen sich auf den Themenbereich Allgemeine Politik, Weltpolitik eingeschlossen. Dabei handelte es sich in 4 Fällen um die US-Präsidentschaftswahl. In den sehr wenigen Ausgaben, deren Aufmacher-Schlagzeile ein anderes Thema als Corona hatte, war Corona dann aber zumeist Thema in dem zweiten oder dem dritten Artikel der Seite 1. Insgesamt hatten 238 (94%) von 252 Ausgaben, die vom 2. März 2020 bis zum 31. Dezember 2020 erschienen, Corona als Thema auf der Titelseite. Eine der wenigen Schlagzeilen, die nichts mit Corona zu tun hatte, erschien am 9. September 2020. Sie lautete „Luftverschmutzung größte Bedrohung für Gesundheit“. Inhaltlich ging es darum, dass sich jeder 8. vorzeitige Todesfall pro Jahr in Europa auf Umweltbelastungen zurückführen lasse. Dies seien jährlich 630.000 vorzeitige Todesfälle in der EU, davon allein 400.000 durch Luftverschmutzung.
Zum Thema „Todesfälle durch Umweltfaktoren“ in der EU sei am Rande und zum Vergleich der Größenordnung angemerkt, dass seit Beginn der Corona-Pandemie bis heute (5.12.2021), also im Grunde in 2 Jahren, in der EU 1.514.199 Menschen an oder mit Corona verstarben (Quelle: John Hopkins University), wobei es sich ganz überwiegend um ältere Menschen handelt. Das sind derzeit etwa 750.000 pro Jahr, was sich bis Jahresende noch etwas steigern wird. Man kann also sagen, dass heute in der EU etwas mehr als so viele Menschen an Corona versterben wie vor Corona vorzeitig an Umweltverschmutzung starben. Das möchte ich jetzt hier nicht weiter werten, aber der Größenvergleich der Zahlen ist interessant, auch im Hinblick auf die Maßnahmen, um diese Todesfälle zu verhindern.
Zur Aussage, es würden überwiegend ältere Menschen an Corona versterben, was auch auf die vorzeitig an Umweltverschmutzung Verstorbenen zutreffen dürfte, sei das Folgende ergänzt. Etwa 35% aller Menschen, die in Deutschland seit Beginn der Pandemie im Zusammenhang mit Corona verstorben sind, waren jünger als 80 Jahre. Weniger als 15% waren jünger als 70 Jahre. Und nur 5% waren jünger als 60 Jahre. Kinder und Jugendliche sterben praktisch nicht an Corona. Es gab seit Beginn der Pandemie 39 Fälle im Alter unter 20 Jahren, was 0,04% aller Fälle entspricht (Datenstand 2.12.2021, Quelle: destatis).
Zurück zu den Aufmacher-Schlagzeilen der Schaumburger Zeitung. Im Jahr 2021 (1. Januar bis 4. Dezember) drehten sich 199 (70%) der Aufmacher-Schlagzeilen in 284 Ausgaben um Corona. In immerhin 6 Schlagzeilen ging es um Flüchtlinge, vorwiegend im Zusammenhang mit Afghanistan. Der Themenbereich Klima, Energie, Umwelt und Natur legte zu auf 14 Schlagzeilen. Und mit immerhin 31 Schlagzeilen rund um die Kanzlerkandidaten und die Bundestagswahl stieg die Allgemeine Politik im Jahr 2021 zum zweitwichtigsten Aufmacher-Thema nach Corona auf. Aber: Immer noch in 261 (92%) der Ausgaben war Corona Thema auf der Seite 1.
Ich belasse es bei der Information über den Umfang der einseitigen Meinungsbildung in Deutschland am Beispiel einer Tageszeitung, die sich vermutlich auf jede andere Tageszeitung im Land gleichermaßen oder in ähnlicher Weise übertragen lässt. Ebenso auf Nachrichtensendungen im Fernsehen und im Hörfunk. Corona ist seit März 2020 Aufmacher-Thema Nummer 1, aber nicht nur mit etwas Vorsprung vor vielen anderen Themen, die gemeinsam eine ausgewogene Meinungsbildung bewirken könnten, sondern mit einer Art Daueranspruch auf die tägliche Aufmacher-Nachricht. Wen wundert es da noch, wenn Medien Ergebnisse von Meinungsumfragen präsentieren, laut denen eine Mehrheit der Bevölkerung für dies oder das ist. Es ist am Ende doch nicht mehr als eine Abfrage des Lernerfolgs, der durch die eigene Berichterstattung und Wertung der Bedeutung von Nachrichten herbeimanipuliert wurde. (jw)
Link zu einer PDF, die alle Schlagzeilen enthält
Grafiken zum Text: