Schaumburg. Wie sieht die Zukunft der ärztlichen Versorgung in den Landkreisen Schaumburg und Hameln-Pyrmont aus? Wo liegen mögliche Probleme? Welche Lösungen sind denkbar? Darüber diskutieren in den beiden Landkreisen Fachleute, Wissenschaftler und Kommunalpolitiker im Rahmen der Innovationsgruppe UrbanRural Solutions. Es handelt sich um ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstütztes Projekt, bei dem man sich in verschiedenen Untersuchungsregionen Gedanken um die kommunale Daseinsvorsorge macht. Dabei sollen Wissenschaft und Praxis gemeinsam praxistaugliche innovative Lösungen entwickeln.
Untersuchungsregionen sind Göttingen-Osterode, der erweiterte Wirtschaftsraum Hannover und die Stadt Köln. Innerhalb der Untersuchungsregionen gibt es verschiedene Schwerpunkte. In den beiden Landkreisen Schaumburg und Hameln-Pyrmont geht es um die ärztliche Grundversorgung der Bevölkerung in der Zukunft, womit primär die hausärztliche Versorgung gemeint ist.
Am 17. Mai 2017 trafen sich in der Region tätige Ärzte, Geschäftsführer der großen Kliniken in beiden Landkreisen, Vertreter der Kassenärztlichen Vereinigung, Vertreter von Versicherungen, Mitarbeiter der Kommunalverwaltungen, Fachleute für den öffentlichen Nahverkehr, Kreistagsabgeordnete, Stadträte und Wissenschaftler zu einem Workshop, um über Probleme und Herausforderungen zu diskutieren. In einem weiteren Workshop sollen dann Lösungsvorschläge erarbeitet werden.
Noch wird die hausärztliche Versorgung in beiden Landkreisen als gut beurteilt, was bedeutet, dass der Großteil der Bevölkerung einen Hausarzt in einer zumutbaren Zeit zu Fuß, per Rad, per Auto oder per öffentlichem Verkehrsmittel erreichen kann. Jedoch gibt es viele Hausärzte im Alter von 63 Jahren, die voraussichtlich in den nächsten 4 bis 5 Jahren altersbedingt aus dem Beruf gehen werden. Auch dann wird sich die ärztliche Versorgung in der Region noch nicht dramatisch verschlechtern. Jedoch sind auch viele Ärzte nicht weit vom Erreichen des 60. Lebensjahres entfernt und die werden dann in einem zweiten Schritt die nächsten sein, die für die Versorgung der Bevölkerung verloren gehen.
Das Hauptproblem ist, dass die Nachbesetzung der frei werdenden Arztsitze schwierig ist, während gleichzeitig die Nachfrage nach ärztlichen Dienstleistungen aufgrund des demographischen Wandels steigt. Wir bräuchten also eigentlich in Zukunft mehr Ärzte, aber es zeichnet sich das genaue Gegenteil ab. Nicht nur, aber besonders in ländlichen Gebieten.
Dazu, aus welchen Gründen es schwierig ist, junge Ärzte in ländliche Regionen, Klein- und Mittelzentren zu holen, fiel den Experten einiges ein. Dazu gehörten die Ausbildung der Mediziner, also das Medizinstudium, und neue Lebensmodelle der Absolventen, die mit den vorhandenen Strukturen nicht mehr vereinbar seien.
Um es einmal zusammenzufassen, wird das von einigen wie folgt gesehen. Viele junge Absolventen wollten nicht mehr ganztags arbeiten, sondern vielleicht nur halbtags oder nur 3 Tage in der Woche. Sie wollten auch noch etwas anderes mit ihrem Leben anfangen, sei es Freizeitgestaltung oder das Familienleben. Deshalb sei auch die Infrastruktur vor Ort sehr wichtig, um diese Absolventen überhaupt in die Fläche zu locken. Wer nur in Teilzeit arbeiten möchte, der sei natürlich auch nicht bereit, unternehmerische Risiken einzugehen. Die Einzelpraxis, in der ein Arzt weit mehr als 40 Stunden in der Woche arbeitet und für die er allein das volle unternehmerische Risiko trägt, scheint vom Aussterben bedroht zu sein. Kaum jemand sei noch bereit, 100.000 Euro für eine bestehende Praxis zu bezahlen. Die Praxen seien auch oft zu verwinkelt und nicht mehr zeitgemäß, etwa nicht behindertengerecht. Junge Ärzte wollten in einer ganz anderen Umgebung arbeiten. Zum Beispiel in Gemeinschaftspraxen oder Medizinischen Versorgungszentren. Auch Praxisstrukturen, die an Krankenhäuser angegliedert sind, wurden als Möglichkeit genannt. Die neuen Lebensmodelle, die von jungen Medizinern offenbar gewünscht werden, also weniger Arbeit und mehr Zeit für andere Dinge, sind wohl besonders auf den Umstand zurückzuführen, dass die meisten Absolventen eines Medizinstudiums weiblich sind. Während bereits zu Beginn des Studiums 60 Prozent der Studenten weiblich sind, geben wohl im Verlauf des Studiums überwiegend Männer das Studium auf oder migrieren am Ende wegen der besseren Einkommensmöglichkeiten ins Ausland, etwa in die Schweiz, so dass am Ende 80 Prozent der Berufsanfänger weiblich sind. Die Medizin wird also weiblich. Mehrfach war von Generation Y die Rede. Es kommen immer mehr junge Ärztinnen im Alter von 24 bis 25 Jahren in den Beruf, die mehr Wert auf geregelte Arbeitszeiten und Teilzeitmodelle legen. Daher müssten künftig drei junge Ärztinnen ausgebildet werden, um zwei in Pension gehende Ärzte zu ersetzen.
Als ein Grund, warum im Verhältnis viel mehr Frauen ein Medizinstudium beginnen, wurde der Numerus Clausus benannt und dass mehr Frauen entsprechende Abiturnoten hätten.
Aber es sind nicht nur die Abiturnoten. Das deutsche Ärzteblatt schrieb bereits 2008, dass viele Männer sich gar nicht mehr für das Medizinstudium interessierten, weil das Prestige des Arztberufes und die Gehälter erheblich gesunken seien. Abiturienten würden sehen, dass man in anderen Berufen mit weniger Verantwortung mehr Geld verdienen kann. Frauen würde ein hohes Einkommen nicht ganz so viel bedeuten, sondern es gehe ihnen eher um Teilzeitmodelle, die sich besser mit der Familienplanung vereinbaren ließen. In der Diskussion wurde bemerkt, dass viele junge Ärztinnen ja auch nicht Alleinverdiener seien, sondern Partner hätten, die ebenfalls in einem akademischen Beruf arbeiten würden. Die seien teilweise auch beruflich an größere Städte gebunden.
Aus meiner Sicht haben wir also ein Problem. Das Medizinstudium ist für den Staat, sprich für die Steuerzahler, der teuerste Studiengang überhaupt. Es kostet 200.000 Euro für einen Absolventen. Diejenigen, die das studieren, können oder wollen aber mehrheitlich nicht mehr in Vollzeit arbeiten oder sich selbständig machen. Da muss man doch sagen, dass der Input, nämlich die 200.000 Euro, und der Output, nämlich lauter junge Damen, die nur in Teilzeit an der medizinischen Versorgung der Bevölkerung teilnehmen, nicht zusammen passen. Wenn ich 1,5 bis 2 Absolventinnen brauche, um einen Arzt von heute zu ersetzen, dann kostet die Ausbildung eines in Vollzeit tätigen Mediziners künftig 300.000 bis 400.000 Euro. Hinzu kommen die, deren Studium in Deutschland ebenfalls 200.000 Euro kostet, die aber nachher überhaupt nicht an der medizinischen Versorgung der Bevölkerung teilnehmen. Weil sie ins Ausland gehen oder dann doch noch in einen anderen Beruf gehen. Da muss man sich schon fragen, ob es aus ökonomischer Sicht die Richtigen sind, die Medizin studieren.
Wir müssen es hinbekommen, dass wieder mehr Männer Medizin studieren, die ihren Beruf auch in Vollzeit ausüben und damit ihren Lebensunterhalt verdienen wollen. Und zwar in Deutschland und nicht im europäischen Ausland. Wie kann man das machen?
Eine Männerquote wäre eine Möglichkeit. Wenn man etwa sagen würde, dass mindestens 50 Prozent der Studienanfänger Männer sein müssen und, um diese Quote zu erreichen, dann bei den Männern den Numerus Clausus so weit absenken würde, dass diese Quote erfüllt wird. Nun bin ich aber gar kein Fan von Quoten, sondern immer der Meinung, dass es nach Qualifikation und Eignung gehen muss.
Also wäre die bessere Lösung, den Numerus Clausus für Medizin für alle Bewerber entweder erheblich abzusenken oder ganz abzuschaffen und die Abiturnote nur noch untergeordnet in die Bewertungskriterien für die Studienplatzvergabe einfließen zu lassen. Gleichzeitig könnte man verlangen, dass Absolventen bereits sehr früh, zum Beispiel nach dem Physikum und zu Beginn des klinischen Studiums, verpflichtend die Bereitschaft erklären müssen, für eine gewisse Zeit und auch in einem gewissen Umfang an der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung teilnehmen zu wollen, wenn das Studium bis zum Staatsexamen kostenlos bleiben soll. Alternativ könnte man Absolventen, die eine solche Erklärung abgeben, mit Stipendien unterstützen und das könnten auch bereits Regionen machen, in denen der Absolvent dann anschließend tätig werden soll.
Die Anpassung der Zugangsbedingungen für Abiturienten könnte begleitet werden duch eine Öffnung des Zugangs zum Medizinstudium von unten. Wer in Gesundheits- und Pflegeberufen tätig ist, etwa als Krankenschwester oder -pfleger, weiß was es heißt, zu arbeiten. In der Regel in Vollzeit. Praktische Erfahrung, soziale Kompetenz und Lebenserfahrung würden diese Absolventen auch für ihren späteren Arztberuf mitbringen.
Keine Frage, auch die Attraktivität des Arztberufes an sich muss wieder zunehmen. Denn wenn es für bestens qualifizierte Männer keine Frage der Zugangsbeschränkungen mehr ist, ob sie ein Medizinstudium aufnehmen wollen oder nicht, sondern eine Frage von zu wenig Geld und Prestige bei gleichzeitig extrem hoher Verantwortung, dann wird man das Problem auch durch Lockerung des Numerus Clausus oder das Angebot von Stipendien nicht in den Griff bekommen.
Solange es Fakt ist, dass vorwiegend junge Ärztinnen die Universitäten verlassen, die sich neue Lebensmodelle und Teilzeitbeschäftigung wünschen und deshalb nicht einen sondern vielleicht nur einen halben Arzt von heute ersetzen können, hilft es nichts, dann muss man auch erst einmal die Anzahl der Studienplätze erheblich erhöhen.
Wenn man, wie im Workshop von jemandem vorgeschlagen, darüber nachdenkt, deutsche Studenten für das vorklinische Studium vermehrt ins Ausland zu schicken, etwa nach Ungarn, damit sie dann für ihr Hauptstudium nach Deutschland wechseln und hier frei gewordene Studienplätze belegen können, immerhin eine interessante Möglichkeit, sollte man doch besser die Kapazität im Inland erhöhen und dafür sorgen, dass die Auswahl zielorientierter erfolgt.
Wie man es schaffen kann, trotz dieser widrigen Umstände auch in Zukunft ausreichend viele Ärzte in den eigenen Landkreis oder die eigene Kommune zu holen, dazu gab es im Workshop einige Vorschläge. Am Ende sollten die Teilnehmer bewerten, wie hoch sie die Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Personengruppen zur Lösung der Herausforderungen einschätzen. Eine große Mehrheit kam zu dem Schluss, dass Ärzte, Kliniken, Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigung dabei eine sehr wichtige Rolle spielen. Auch die Handlungsmöglichkeiten von Lokalpolitik und Bürgermeistern bzw. Landräten wurden noch recht hoch eingeschätzt.
Keine Frage dürfte wohl sein, dass der großen Politik in Bund und Ländern hier eine ganz entscheidende Bedeutung zukommt.
Die Zeiten, in denen man das Problem in dieser Weise abgetan hat, sind wohl vorbei: „Der Ärztemangel ist ein Mythos der Lobbygruppen der Mediziner. Es gibt genug Absolventen und Einwanderer, um die aus dem Berufsleben scheidenden Ärzte zu ersetzen. Lediglich die regionale Verteilung der Ärztedichte ist ein Problem. Wichtig ist nicht die Nationalität der Mediziner, sondern nur, wie hoch die Differenz zwischen zu- und abgewanderten Ärzten in und aus Deutschland ist.“ Zu solchen Schlüssen kam 2013 eine Studie des Institutes der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.
Zu ganz anderen Ergebnissen kam dann auch 2015 die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Verglichen mit anderen OECD-Ländern seien die Zukunftschancen des deutschen Gesundheitssystems weit weg vom internationalen Mittelwert oder gar von der Führungsgruppe. Die Schlüsselzahlen würden in Richtung Kollaps weisen. Die Ärzteschaft seit überaltert und es werde dringend dazu geraten, zur Rettung des Gesundheitssystems Ärzte aus dem Ausland zu holen. Dass dürfte aber wohl kaum die Lösung sein, die sich die Bürger wünschen.
(Dr. Jens Wilharm, Fraktion Alternative für Schaumburg im Kreistag Schaumburg)